Verkorkst von A bis Z
Das Dilemma begann, als ich zu neugierig wurde, was denn all diese mich umgebenden Buchstaben bedeuten, sodass mir meine Mutter das Lesen beibrachte, da war ich vier, von da an las ich alles, was ich in den Regalen anderer und Bibliotheken fand, alles, was mir empfohlen wurde und was ich für den Abschluss von Ausbildungen benötigte, ich las und las und las und spürte, dass dies der einzige Ort war, an dem ich glücklich sein konnte und durfte, in diesem Meer der Buchstaben, ich las und begann natürlich selbst zu schreiben, zögerlich und zensiert, versteckt und verschämt, denn was hatte ich schon zu sagen, im Gegensatz zu diesem schon existierenden Meer der Buchstaben, der gesamten Welt an Weisheit, Liebe und Tröstungen, niemals würde ich Worte derart kunstvoll verknüpfen können, dass sie andere berühren, so wie mich die Worte von Fremden tief treffen, im Meer der Buchstaben war ich geborgen, ich las und schrieb im Wechsel, und dazwischen reiste ich und ließ mich verzaubern von der Fremdheit, flüchtete vor Verantwortlichkeiten, verliebte mich in den Taumel an Träumen, die das Leben bereitzuhalten schien, doch einzig im Meer der Buchstaben ist alles denk- und vorstellbar, es gibt keine Beschränkungen und Grenzen, es gibt nur diesen unendlichen Raum an Wörtern und Orten und Sehnsüchten, die Dinge anklingen lassen, von denen ich nicht wusste, dass es sie gab, all die Buchstaben rufen das für mich wahre Leben hervor, Örtlichkeiten, Begebenheiten, Flut von Gefühlen, die ich sonst nicht kennengelernt hätte, am wichtigsten erschien mir die Erkenntnis: So kann man also leben, so voll und bunt und intensiv kann es also sein, so viele Facetten hat das Dasein, die Verbundenheit, die Liebe, Kraft, Mut, Hoffnung, all das, und noch viel mehr geben mir die Buchstaben, nur kein Geld, nur keine finanzielle Sicherheit, trotzdem fädle ich sie weiter zu bunten Girlanden auf, die im Wind wehen und dem Alltag standhalten, sie sind mir Kompass in der Welt der Gefühle, die mir Angst macht, so unfassbare Angst, doch das Meer der Buchstaben ist und bleibt ein Schutzwall, ein Mysterium der Möglichkeiten, ein Rückzugsraum, der mir in den Jahren des Wandels der einzige Halt geworden ist, ich fädle sie weiter auf und verwebe sie zu meinem Tarnumhang, und ich werde unsichtbar und verschmelze mit allem, was mich umgibt, wie ein Chamäleon tappe ich durch die Tage und schwimme im Meer der Buchstaben, meistens ganz nah an der Küste, feig und ängstlich und verschreckt, nur selten wage ich mich aufs weite Wasser hinaus, nicht ohne die Panik, nicht mehr zurückzufinden in mein Leben, das Leben mit dem Mann und den Kindern und der Erwerbstätigkeit, dieses Leben, das gut ist, doch so begrenzt und beschränkt, verheddert mit Verbindlichkeiten und Forderungen, eng getaktet von Stundenplänen und Terminen, von Kreditlaufzeiten und Versicherungsschutz, lauter Zahlen, die konträr zu Buchstaben stehen, fern von der Freiheit, all diese Ziffern beherrschen leider die Welt, das Meer der Buchstaben zahlt die realen Rechnungen nämlich nicht, nur die meiner Sehnsüchte.
❤️ Welche Bedeutung haben Buchstaben für dich?
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