Das Tal der Tränen
Ich habe erst mit 27 Jahren ernsthaft zu studieren begonnen und arbeitete „nebenher“ in einem 20-Stunden-Job an der Technischen Universität. Mit 29 bekam ich mein erstes Kind, mit 31 mein zweites – und dachte eigentlich, dass ich vor dessen Geburt den Bachelor beenden würde und mich dann von der Uni zurückziehen würde.
Doch dann hatte ich dieses Seminar bei meiner zukünftigen Masterarbeitsbetreuerin, die mich dazu einlud, im Rahmen eines FWF-Forschungsprojekts meine Abschlussarbeit zu schreiben. Im Laufe des Gesprächs zeigte ich auf meinen schon recht ansehnlichen Bauch und meinte: „Das ist übrigens mein zweites Kind.“ Woraufhin sie nur „Na und?“ sagte, womit es beschlossene Sache war, dass ich die kommenden Monate (es wurden Jahre) an der Uni und an meiner Abschlussarbeit werkelte.
Nun war das natürlich leichter gesagt als getan, denn einerseits forderten mich sowohl die langen Tage als auch die kurzen Nächte mit Kleinkindern enorm, und andererseits war das Themengebiet der Abschlussarbeit eng umgrenzt: „Deutschsprachig-jüdische Literatur und Publizistik im Ersten Weltkrieg.“ Lange wusste ich nicht, worüber ich schreiben sollte, bis ich in einer Wochenzeitung die Rubrik „Söhne im Felde“ fand, in der auf eindringliche Weise aufgelistet wurde, wo die jungen Männer einer Familie kämpften, verschollen oder verstorben waren.
Da ich zwei Söhne hatte und mich die Vorstellung, sie würden jemals an eine Front geschickt, dermaßen erschütterte, schaute ich mir in meiner Masterarbeit mit dem Titel „Sieben Söhne im Felde“ die Familiendarstellungen sowie die durch den Krieg tradierten und überladenen Bilder wie beispielsweise „Soldatenmütter“ oder „Heldensöhne“ genauer an. So steht es in meinem Abstract:
Ausgehend von der These, dass der Familie als kleinster gesellschaftlicher Einheit im Kriegsverlauf ein spezieller Stellenwert in der medialen Kriegsmobilisierung zugeschrieben wurde, stehen in der Masterarbeit Fragen nach den Narrativen über die soziale, symbolische und identitäre Bedeutung der Kernfamilie, innerfamiliäre Rollen (auch in Hinblick auf zivile und militärische Aufgaben) und der Beziehung der einzelnen Familienmitglieder untereinander im Fokus.
Damals – im Mai 2025 jährt sich der Abschluss meines Studiums zum zehnten Mal – hatte ich weder die Schreibtools und Schreibtechniken, die ich mittlerweile anwende, noch das (Schreib-)Selbstvertrauen, dass ich wissenschaftlich schreiben könnte, geschweige denn eine Arbeitsstruktur, die mich befähigt hätte, die Arbeit Häppchen für Häppchen zu verfassen – und das Schreiben an der Masterarbeit war eine Qual. Ich schob sie vor mir her, hörte nicht auf, in Sekundärliteratur zu wühlen, anstatt das Gelesene einfach auf den Punkt zu bringen.
Meine Betreuerin (die wie eine liebevolle, doch gelegentlich strenge Mutter zu mir war) wollte, dass ich zuerst eine Einleitung mit der Methodik und der Fragestellung schreiben müsse, dann den Hauptteil, und nach der Conclusio sollte ich die Einleitung nochmal überarbeiten. Und natürlich war das Problem, dass ich gar nicht wusste, was ich wie untersuchen wolle. Ich erinnere mich daran, dass mein damaliger Mann an einem Samstagmorgen mit den Kindern auf den Spielplatz ging und meinte, er käme erst wieder, wenn ich die Einleitung geschrieben hätte. Ich habe in seiner Abwesenheit erst mal Rotz und Wasser geheult und mir selbst leid getan, doch dann schrieb ich eine Rohfassung der Einleitung, die ich gemeinsam mit meiner Betreuerin überarbeitet habe.
Und irgendwann wurde auch diese Arbeit – step by step und mit viel Zuspruch meiner Nächsten – fertig! Ich war irrsinnig stolz auf mich, neben zwei Kleinkindern und dem Absolvieren von Unikursen sowie einer geringfügigen Anstellung dieses Monsterprojekt Masterarbeit geschafft zu haben – der Studienabschluss setzte enorme Energien frei sowie eröffnete Möglichkeiten, die ich vorher nicht am Schirm gehabt habe.
In den letzten Jahren habe ich mich intensiv mit dem Erstellen und der Bearbeitung von wissenschaftlichen Arbeiten befasst – und durfte viele Studierende bei diesem Prozess, der zu Recht den Namen „Tal der Tränen“ trägt, begleiten. Ich kann euch nur aus eigener Erfahrung sagen: Springt über euren (Schreib-)Schatten und eure Ängste, geht es häppchenweise und mit gut geschnürten Arbeitspaketen an – und holt euch Unterstützung durch Schreibgruppen, Schreibbuddies oder auch gern im Coaching mit mir!
Eine extrem hilfreiche Übung durfte ich übrigens bei Doris Pany-Habsa vom Schreibzentrum der Uni Graz kennenlernen – das gab meiner Masterarbeit einen Megaschub:
Sie forderte uns dazu auf, aus der Perspektive unserer Abschlussarbeit einen Brief an uns selbst zu schreiben – einen Brief, in dem uns die Abschlussarbeit schilderte, wie es ihr ginge, was sie von uns brauche und was eventuell die ersten bzw. nächsten Schritte sein könnten…
PS: Meine Masterarbeit hat mir übrigens einen sehr traurigen und emotionalen Brief geschrieben, wie vernachlässigt und ungesehen sie sich von mir fühlt, dass sie mir ja nichts Schlechtes wolle – im Gegenteil: sie sei mein Ticket zur Zukunft…. womit sie absolut Recht hatte!
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